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Sommer in den Elbtalauen
Kapitel 1

"Du hast es mir versprochen, Dad!", brüllte ich in den Hörer. "Du wolltest heute auf die Kleinen aufpassen!"

"I´ll try my best, boy!", antwortete er und brachte mich mit seiner Standardantwort auf die Palme. Im Hintergrund konnte ich den Lärm der Fertigungsmaschinen hören. Er war also noch nicht mal von der Arbeit losgefahren!

"Fuck! Echt, das ist so richtig scheiße!" Gehetzt sah ich auf die Uhr und stellte ich fest, dass ich für das Training schon viel zu spät dran war. Ich knallte den Hörer auf das Telefon. Beim Hinausgehen zog ich meine blaue Sportjacke an und fuhr mit dem Fahrrad los zur Sporthalle. Wütend trat ich in die Pedale. Ich wusste ja, dass er als alleinerziehender Vater mit drei Jobs und vier Kindern viel unterwegs sein musste, und ich half ihm, wo ich nur konnte. Nie wollte ich etwas für mich. Nur das Training war mir wichtig. Es war das einzige, was mich von meinen alltäglichen Pflichten ablenkte. Wenn ich den Ball vor mir herdribbelte und die gegnerischen Spieler hinter mir spürte, der Druck sich erhöhte und ich den Korb traf, konnte ich für einen Moment das Gefühl der Freiheit genießen. In diesen kurzen Momenten konnte ich mich wie ein gewöhnlicher Teenager fühlen. Genervt dachte ich an meine Geschwister, die in einer halben Stunde abgeholt werden müssten. Dad würde es nicht pünktlich schaffen. Das schlechte Gewissen zog meinen Magen zusammen doch ich fuhr weiter.

In der Halle angekommen blieb mir nicht mehr viel Zeit, um mich umzuziehen und auf die Trainingssession vorzubereiten. Beim Betreten der Halle fielen mir ein paar Zuschauer auf der Tribüne auf, aber ich wollte mich davon nicht ablenken lassen und machte mich ans Aufwärmen. Meine schlechte Laune ließ ich hinter mir, meine Gedanken fokussierten sich aufs Training. Für die Chance, ins Basketballteam meiner Schule zu kommen, hatte ich den ganzen Winter über Gewichte gestemmt und war endlos lange Runden im Wald gelaufen. Ich musste es einfach schaffen!

 

Noch immer leicht außer Atem von meinem zehnminütigen Lauf durch die Halle, saß ich am Spielfeldrand und dehnte meine Oberschenkel. 

"Na, Pat! Ist ja sehr gut, dass du es heute hierher geschafft hast", sagte mein Sportlehrer Herr Müller. "Ich behalte dich im Auge, Junge. Zeig´, was du drauf hast, klar?" Er zwinkerte mir zu. "Geht es deinem Vater gut?"

"Ja, er passt heute auf meine Geschwister auf. Der Mitgliedschaft im Team steht also nichts mehr im Weg!" Ich zeigte meinen Daumen nach oben und lächelte. Heute war ein guter Tag. Ich würde es schaffen, das spürte ich. Schon von klein auf hatte ich immer nur Basketball spielen wollen und mir wurde von vielen Leuten versichert, dass ich das Talent dazu hatte. Zu meinen größten "Fans" gehörte Herr Müller. Er wollte schon öfter mit mir alleine trainieren, sprach von irgendwelchen Studiengängen und Möglichkeiten, die ich nie wahrnehmen würde, solange ich bei meiner Familie wohnte.

"Alles klar, Jungs! Auf geht’s!", rief er und klatschte in die Hände. Ein gegnerischer Spieler und ich stellten uns zum Hochsprung am Mittelkreis auf. Vor lauter Aufregung kribbelte es mir in den Fingern. Die Spieleröffnung gewann ich jedes Mal, da keiner auch nur annähernd meine Körpergröße hatte. Ich war jetzt siebzehn Jahre alt und gute zwei Meter groß.

Sofort kam Bewegung ins Spiel. Ich dribbelte und war mit drei Schritten nah genug am Korb, um den Ball zielsicher hinein zu werfen. Das Adrenalin schoss durch meine Adern. Sofort wurde mir warm und ich wollte mehr davon.

Gerade als ich mit einem Klassenkameraden High-Five abklatschte, sah ich ihn: Dad. Mir wurde schlagartig eiskalt und ich seufzte enttäuscht. Neben ihm standen meine drei kleinen Geschwister: Lara, Michael und Felix. Im nächsten Moment knallte mir der Ball gegen den Kopf und kurz verschwamm meine Sicht. Fluchend hielt ich nach dem Schuldigen Ausschau. Herr Müller pfiff das Spiel ab und kam kopfschüttelnd zu mir.

"Pat? Was ist los? Oh, ich sehe schon."

Gemeinsam mit Herr Müller trottete ich zu Dad, die Blicke der anderen Spieler im Rücken. Sie wollten mich in der Mannschaft, aber auf mich war einfach kein Verlass.

"Hallo, Herr Jenkins!", begrüßte Herr Müller ihn. Er wusste, dass ich mich immer mit um meine Geschwister kümmern musste, und war sehr verständnisvoll, wenn es einen Notfall gab.

"Was soll das, Dad?", flüsterte ich ihm gepresst zu. "Du hast es mir versprochen!"

"I´m sorry, boy! My boss told me to stay longer and I need to go back immediately. I´m so sorry!" Dad war Amerikaner und sprach nur englisch mit mir, obwohl er schon so viele Jahre in Deutschland lebte. Er sah mich zerknirscht an. Lara, die Älteste, zappelte an seinem Arm herum. Die Kleinen hatten ihre Rucksäcke auf und Dad hielt ihre Jacken mit der freien Hand. 

"Mir ist langweilig", nölte Lara.

"Herr Jenkins, wir sollten uns in nächster Zeit mal zusammensetzen, um zu besprechen, wie es mit Patrick weitergeht. Er könnte ein Sportstipendium bekommen. Er muss nur regelmäßig zum Training kommen, sonst wird das nichts", setzte Herr Müller an. Dad nickte, doch ich wusste, dass er es nur tat, um Herrn Müller loszuwerden. Michael, mit seinen zehn Jahren das mittlere Kind, verdrehte die Augen und rannte um uns herum.

"Ich will auch spielen!", rief er.

"Wann können wir gehen?", fragte Lara und lehnte sich zurück. Dabei zog sie an Dads Arm und brachte ihn kurz aus dem Gleichgewicht. Mit aufeinander gepressten Lippen atmete ich tief durch die Nase ein und wieder aus, ein und wieder aus. Wütend zu werden hatte noch nie Erfolg gehabt, daher schluckte ich meinen Ärger runter und beugte mich zu den Kleinen. Sie konnten nichts dafür.

"Ich muss mich schnell umziehen, dann gehen wir nach Hause, okay?", sagte ich und strich dem vierjährigen Felix, über die Wange. Er saß auf dem Boden und spielte mit den Klettverschlüssen seiner Schuhe.

Alle drei nickten und sahen mich mit großen Augen an. Ich zog Felix am Arm hoch, als ich eine weibliche Stimme aus den Rängen hörte.

"Wir können auf die Kinder aufpassen!", rief sie und kam schon die Treppen hinab. "Wir sind in einer Stufe. Ich bin Julia und das da oben ist Finn." Ich hatte sie schon mal gesehen, aber wie so ziemlich alle Stufenkameraden, kannte ich sie nicht persönlich.

"Was?", stieß ich perplex aus. "Nein, das geht nicht." Verwirrt sah ich sie an. Sie ging mir nur bis zur Brust und wirkte sehr nett. Aber auf meine Geschwister würde sie nicht aufpassen. Oder?

"Pat, um ins Team zu kommen, musst du spielen. Ich weiß nicht, wie ich dir sonst helfen kann", sagte Herr Müller und sah nickend zu Julia. "Die Lütte hier ist ganz schön frech, aber sie wird den Kindern schon nichts antun. Außerdem kenne ich ihre Eltern."

Sie streckte ihm grinsend die Zunge raus. Nebenbei sammelte sie schon Felix ein und nahm Dad die Jacken ab.

"Wir sind zu zweit, wir werden mit den dreien schon fertig!" Mit Felix auf dem Arm griff sie nach Michaels Hand. Lara sah mich genervt an.

"Ich dachte, wir gehen nach Hause!", jaulte sie. Ich warf ihr einen strengen Blick zu und sie trottete Julia hinterher.

Dad verabschiedete sich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich kannte diesen Blick. Es tat ihm leid, aber er hatte keine Wahl. Genauso wenig wie ich. Wir gaben unser Bestes, aber es war nicht leicht.

"Sorry, boy. I need to go. See you later. Take care!" Ich nickte ihm zum Abschied zu und lief wieder aufs Spielfeld.

"Okay, weiter geht’s!", rief Herr Müller freudig. Einen letzten Blick auf Julia konnte ich mir nicht verkneifen. Warum half sie mir? Sie setzte sich neben Finn, den Neuen in unserer Stufe, und winkte mir zu.

Die restlichen anderthalb Stunden vergingen wie im Flug. Nur einmal sah ich hoch zu den Fünfen, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Keiner weinte und sie waren vollzählig.

Es tat gut, mit anderen zu trainieren. Einige von ihnen, ihre Namen kannte ich wie üblich nicht, würde ich gerne besser kennenlernen und vor allem mit ihnen spielen. Ich fand mich schnell im Team ein, dribbelte um die Gegner herum, passte Bälle und eroberte so das Feld.

Ich hatte sehr lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Als Herr Müller das Spiel abpfiff, gab mir jeder mein Teamkollegen ein High-Five. "Gut gemacht, Pat!", sagte Herr Müller. "Du hast sie richtig aufgescheucht."

Verschwitzt und außer Atem beugte ich mich vornüber und grinste. Ein paar der anderen Spieler lagen schwer atmend auf dem Boden, einige andere liefen mit in die Seite gestemmten Händen durch die Halle.

"Willkommen im Team!" Herr Müller klopfte mir auf die Schulter und ging wieder. Ich gehörte dazu. Ich war einer von ihnen. Es geschafft zu haben, freute mich, aber gleichzeitig spürte ich den Knoten im Magen. Wie sollte ich das zeitlich schaffen?

Ich sah hoch zur Tribüne und zu meiner Verwunderung saß nur noch Finn bei den Kindern. Julia war verschwunden. Soviel zur Zuverlässigkeit der Lütten. Als er meinen Blick sah, zuckte er mit den Schultern und ich winkte ihm zu. Er kam die Tribüne herunter. Michael und Lara folgten ihm. Sie war in ein Handyspiel vertieft, Felix schlief auf Finns Arm und Michael spielte mit seinem Fidget Spinner.

"Wo ist Julia hin?", fragte ich und wischte mir mit dem Shirt den Schweiß aus dem Gesicht. Sie wirkten alle sehr entspannt. Was ungewöhnlich war, denn normalerweise waren sie nicht zu bändigen.

"Ich weiß nicht genau, sie meinte, sie müsse nach Hause. Hat mich ganz schön im Stich gelassen", murmelte Finn und sah den feuchten Fleck auf meinem Shirt an. Es war grau und Ärmellos. Ekelte ihn der Schweiß an? Nach dem Sport war ich immer total verschwitzt und roch bestimmt auch nicht besonders, aber was sollte ich machen? Sein Starren verunsicherte mich und ich versuchte, die Stimmung aufzulockern: "Tja, Weiber halt!" Er grinste mich an. Er hatte ein tolles Lächeln. Seit drei Monaten gingen wir nun schon in die gleichen Kurse, doch bisher hatten wir kein Wort miteinander gewechselt.

"Können wir jetzt endlich nach Hause?", fragte Lara, ohne vom Handy aufzusehen.

"Pat Pat!", rief Felix, der mittlerweile wieder aufgewacht war. "Ich will… auf… Arm!" Er lehnte sich vor und ich nahm ihn Finn ab. Felix hatte beim Sprechen Probleme mit dem Atmen, deswegen sagte er oft unvollständige Sätze und machte alle paar Worte eine Pause, um Luft zu holen.

"Danke, dass du auf sie aufgepasst hast", sagte ich zu Finn und wandte mich dann an die Kleinen. "Ich muss noch schnell duschen, wartet ihr hier?" Finn nickte, genau wie die Kleinen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass er jetzt gehen würde, aber er blieb, wo er war.

"Willst du auch warten?" Passen würde es mir, dann könnte ich in Ruhe duschen. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und sah zu Boden. 

"Ähm…ich weiß nicht, ich kann auch gehen", lachte er nervös und drehte sich halb weg. Mist!

"Nein, warte. Wenn es dir nichts ausmacht, dann gehe ich duschen und wir treffen uns vor der Sporthalle? Danach gehen wir alle ein Eis essen, du kannst gerne mitkommen!"

Unsicher sahen mich seine hellgrünen Augen an, die perfekt zu seinen orangefarbenen Sommersprossen passten.

"Ich lade dich ein", setzte ich hinterher, weil er nichts sagte und das Schweigen unangenehm wurde. "Als Dankeschön!"

Er sah kurz auf seine Armbanduhr und nickte dann. Ich übergab ihm Felix und verschwand in der Umkleidekabine.

 

Die anderen Jungs waren schon fast alle weg, nur einer war noch da und kam gerade halbnackt aus der Dusche.

"Hey", sagte er und grinste mich an. "Hast gut gespielt, Pat."

"Danke", sagte ich und presste meine Lippen aufeinander. Die Situation war mir unangenehm, denn ich hatte nichts zu erzählen und ich wusste nicht mal, wie er hieß. Er hatte genauso dunkle Haut wie ich, war aber etwas kleiner und hatte immer ein freches Grinsen und blöden Spruch auf den Lippen.

"Wir treffen uns gleich noch auf ein Bier. Willst du mitkommen?", fragte er und sah mich auffordernd an. Dabei zog er sein Handtuch aus und stand nackt vor mir. Sofort sah ich weg.

"Ähm…", stotterte ich und dachte nach, was ich eigentlich gefragt worden war. Aus dem Augenwinkel konnte ich seinen Hintern sehen und ich drehte mich um.

"Es ist nicht weit von hier. Gleich bei den Hochhäusern."

"Ich kann leider nicht. Sorry, ich muss auf meine Geschwister aufpassen."

Es war genauso wie früher, wenn mich meine Kumpels gefragt hatten, ob ich mit ihnen rumhängen wollte. Viele Leute fanden mich sympathisch und nett. Ich hatte nur einfach keine Zeit und hatte gelernt, damit zu leben.

"Kein Problem, Mann. Alles klar. Bis morgen dann", sagte er und zog sich an. Dann ging er endlich hinaus und ich konnte unter die Dusche.

 

Die Vier warteten wie vereinbart vor der Halle auf mich. Die Sonne ging schon unter und ein kalter Wind brachte mich zum Frösteln. Also musste ich den Kleinen die Jacken anziehen. Das war immer ein mittelgroßes Drama, denn Felix konnte es noch nicht alleine und mochte es auch nicht. Er schrie dann herum und fuchtelte wild mit seinen Armen. Michael konnte seine nicht leiden, weil sie knallgelb war, und lief vor ihr weg. Lara musste mir helfen, aber darauf hatte sie keine Lust.

"Zieht ihr alle eure Jacken an? Komm her, Felix, ich helfe dir. Lara, du hilfst Michael." Keiner rührte sich. Erstaunt sah ich die vier an und stellte fest, dass sie ihre Jacken bereits trugen.

"Äh…", setze ich an und sah verwirrt zu Finn. "Hast du ihnen sie

angezogen?"

Er blickte mich an und lächelte unsicher.

"Es war kalt und ich dachte… Sorry, ich wusste nicht…", stotterte er.

"Nein, alles gut. Ich bin nur erstaunt." Plötzlich und nur für eine Sekunde hatte ich das Bild vor Augen, wie er und ich zusammen mit meiner Familie am Tisch saßen und Hausaufgaben machten. Keiner brüllte herum und ich war nicht mehr allein. Schnell war diese Idee aber wieder verschwunden. Wer würde sich uns schon freiwillig antun? Und das dann auch noch, um mir zu helfen?

Felix lag in Finns Armen und nuckelte am Daumen. Nachts hatte er immer noch einen Schnuller, obwohl er dafür eigentlich schon zu alt war. Aber es war so anstrengend, ihn umzugewöhnen, und Felix brauchte generell etwas länger für alles.

"Okay, dann können wir ja los!", sagte ich freudig. "Soll ich Felix nehmen?"

"Schon gut, es geht", entgegnete Finn und streichelte Felix´ Rücken. Ich nahm Michael an die Hand und Lara lief voraus. Sie hatte immer noch ein Handy in der Hand. Es musste Finns sein, denn sie hatte kein eigenes.

"Wieso passt dein Vater nicht auf deine Geschwister auf?", fragte Finn, während wir nebeneinander her liefen.

"Oder ist Felix von dir?"

Ich musste lachen. Um sein Vater zu sein, hätte ich früh anfangen müssen. Obwohl er der einzige in der Familie war, der mir ähnlich sah.

"Nein, alle drei sind meine jüngeren Geschwister. Also, eigentlich sind die beiden Großen, Lara und Michael, nicht mit mir verwandt. Nur Felix und ich haben die gleiche Ma." Ich sah zu Felix, der gegen Finns Schulter lehnte und am Daumen nuckelte. Mit seiner kakaobraunen Haut und den mandelförmigen Augen sah er wie eine Miniausgabe von mir aus. "Sie ist bei seiner Geburt gestorben."

Es war schon vier Jahre her. Ihren Tod so beiläufig zu erwähnen, war merkwürdig und ich musste mich räuspern, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Im Augenwinkel erkannte ich, dass Finn zu mir blickte, aber ich konnte ihn nicht ansehen. Interessierte ich ihn wirklich? Oder hörte er mir nur aus Höflichkeit zu? Ich sprach selten über mich und es gab auch nicht viel, was ich preisgeben wollte.

"Das tut mir leid", sagte Finn leise. "Felix ist aber dein richtiger Bruder, oder?"

"Das ist ein bisschen kompliziert bei uns, weil wir eine totale Patch-Work-Familie sind." Ich war froh um den kleinen Themenwechsel. "Felix ist mein Halbbruder. Jacob, mein Dad, ist nicht mein leiblicher Vater."

"Wäre ich nie draufgekommen", kicherte Finn und steckte mich an. Dad war einen Kopf kleiner als ich, sehr stämmig und weiß. So weiß, wie man sein konnte. Er hatte schütteres, blondes Haar und hellblaue Augen. Er sah mir in keiner Weise ähnlich.

"Meine Ma´ und ich sind bei ihm eingezogen, als ich sieben Jahre alt war. Lara und Michael sind von Dad und seiner ersten Frau. Die beiden waren damals noch richtig süß. Michael war ein Baby und Lara war vier."

Wir liefen weiter die Straße entlang, bis wir zum Kiosk kamen, der außen eine kleine Kühltruhe stehen hatte. 

"Ich will ein Schokoeis!", rief Lara und lief vor. Michael lief ihr hinterher und schubste sie zur Seite, um als erster in die Truhe zu gucken.

"Hey, nicht streiten!", rief ich. Michael verdrehte die Augen, ließ seine Schwester aber in Ruhe.

"Jeder sucht sich jetzt ein Eis aus und dann könnt ihr auf dem Spielplatz essen, okay?", sagte ich in die Runde und bekam keine Antwort. Natürlich nicht. Lara zog ihr Schokoeis hervor, reichte Finn ebenfalls eines, Michael ein Sandwich-Eis und für Felix und mich gab es ein Vanille-Muh-Eis. Er mochte es, wenn ich das gleiche wie er aß.

Ich ging hinein, um zu bezahlen und die Kinder rannten auf den gegenüber liegenden Spielplatz. Finn und ich setzten uns auf den kalten Bordstein und schmatzten unser Eis. Der kühle Wind zog mir unters Shirt und ich musste den Reißverschluss meiner Sportjacke ganz zuziehen. Das matte Licht der Straßenlaternen ging an.

"Und vor vier Jahren haben deine Ma und Jacob dann Felix bekommen. Deswegen seht ihr euch so ähnlich", fasste Finn zusammen und ich nickte. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und sahen den Kindern beim Toben zu.

"Willst du mal Sport studieren?", fragte Finn. 

"Ich weiß noch nicht. Eigentlich schon, aber…" Ich schüttelte den Kopf. "…mit meinen Geschwistern wird das wohl nichts. Und wir haben kein Geld dafür. Also würde ich einfach nur gerne spielen und mich mal ablenken. Und du?"

"Ach, ich weiß es noch nicht so genau. Vielleicht studiere ich Kunst oder Deutsch oder so… Keine Ahnung. Hauptsache von Zuhause weg", sagte er und es klang irgendwie traurig. "Es gibt doch BAföG, Pat. Wäre sowas nichts? Dann hättest du etwas Geld und könntest ausziehen und studieren." Er wollte offensichtlich nicht mehr über sich sprechen und ich stieg darauf ein. Ich kannte ihn ja nicht besonders gut. Womöglich verschreckte ich ihn, wenn ich zu lange auf unangenehmen Themen beharrte.  

"Ja, mal sehen. Vielleicht mache ich das irgendwann. Aber mit den Kleinen ist das schwer und Dad mit ihnen alleine lassen kann ich auch nicht. Hast du ja heute gesehen. Immer ist irgendwas!" Enttäuscht dachte ich an all die anderen Versuche ins Team zu kommen, die durch meine Familie zunichte gemacht worden waren.

Früher war ich richtig sauer gewesen, der Streit mit Dad dauerte manchmal tagelang an. Wir schrien, ich redete nicht mit ihm, einmal war ich sogar abgehauen und am Ende hatte ich resigniert. Weigern konnte ich mich nicht. Es war ja meine Familie.

Schweigend saßen Finn und ich nebeneinander und aßen unser Eis zu Ende. Die Kinder spielten auf dem Spielplatz gegenüber und beschäftigten sich mit sich selbst. Michael kletterte an den Stangen hoch, die eine Schaukel trugen, auf der Lara saß und auf dem Handy tippte. Felix hockte im Sand und klopfte einen Hügel zusammen.

"Danke, dass du heute auf sie aufgepasst hast", sagte ich zu Finn.

"Kein Problem. Hast du es denn ins Team geschafft?" Seine grünen Augen sahen mich interessiert an.

"Ja… vielleicht… Wer weiß... Aber…", stotterte ich und zuckte mit den Schultern.

"Immer setzt du ein ´aber´ hinterher…", bemerkte Finn und ich hielt seinem Blick nicht mehr stand. Er hatte ja keine Ahnung, wie mein Leben aussah. Das "Aber" war durchaus berechtigt.

"Es ist ja auch alles nicht so einfach. Dad arbeitet Doppelschichten in der Fertigung und hilft am Wochenende auch immer mal aus, um die extra Kohle einzustreichen. Es reicht gerade so, um über die Runden zu kommen. Einen Babysitter können wir uns nur selten leisten. Deswegen muss ich das machen!", sagte ich aufgebracht, obwohl ich wusste, dass ich mich nicht aufzuregen brauchte. Der Familie konnte ich nicht entfliehen.

"Du bist doch so beliebt an der Schule, kann dir denn niemand helfen?"

"Pff", machte ich und zuckte mit den Schultern. "Ich bin nicht beliebt."

"Aber du spielst Basketball und gehörst zu der Clique der Sportler. Die Mädels himmeln dich an."

"Das ist mir noch nie aufgefallen, aber danke für den Hinweis", entgegnete ich. Kein Mädchen hatte mich je angesprochen. "Ich gehöre auch zu keiner Clique oder so."

"Nein, im Ernst jetzt. Viele Mädchen mögen dich."

Ich winkte ab.

Finn stellte unangenehme Fragen und brachte mich zum Nachdenken. Über Dinge, mit denen ich längst abgeschlossen hatte. Studieren. BAföG. Meine Familie verlassen. Ein eigenes Leben haben. Eigene Entscheidungen treffen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Abrupt stand ich auf.

"Wir sollten jetzt gehen", sagte ich laut, um meine Gedanken zu übertönen.

"Warte, sorry, ich bin… ich habe kein Feingefühl. Entschuldige, ich sollte mich nicht einmischen!", sagte er und stand mir gegenüber. Er war einen Kopf kleiner als ich und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich atmete tief ein und versuchte, mich zu beruhigen. Es war nicht seine Schuld und erst recht nicht sein Problem.

Ich rief die Kleinen wieder zu uns, Felix krabbelte los und Michael rutschte die Stange hinab. Lara stand ins Handy versunken auf und trottete zu uns.

"Nein, ist schon gut. Wir müssen jetzt nach Hause. Wenn Felix nicht langsam ins Bett kommt, ist er morgen den ganzen Tag am Rumnörgeln", schob ich vor. Felix nörgelte selten rum.

"Okay, ja, alles klar. Ich muss auch nach Hause." Während Finn das sagte, wühlte er in seiner Hosentasche. "Wo ist mein Handy?"

Schnell sah ich zu Lara. Wenn sie es kaputt gemacht oder es verloren hatte, musste ich ihm ein neues kaufen!

"Lara!", donnerte ich. "Wo ist das Handy?"

"Hier!", antwortete sie und rannte zu uns. "Brauchst ja nicht gleich so herumzubrüllen. Ich bin ja nicht taub!"

Finn nahm sein Handy lächelnd an und tippte auf dem Bildschirm. Panisch riss er die Augen auf. War es kaputt? Sofort sah ich genauer hin. Welches Modell war es? Wie teuer wäre es im Laden? Gäbe es günstigere Alternativen? Würde Finn sich auch mit einem gebrauchten zufrieden geben? Mein Herz schlug schneller als sich Finn abwandte. Oh mein Gott, es war komplett zerstört!

"Lara, du weißt doch, dass du die Sachen von anderen nicht anfassen sollst! Finn, es tut mir so leid! Ich kaufe dir ein neues!" Lara würde nachher richtig Ärger bekommen! "Entschuldige, dass sie es kaputt gemacht hat!"

"Nein, nein. Schon gut", flüsterte er ohne aufzusehen. "Es ist nicht kaputt."

Verwirrt sah ich seinen Rücken an.

"Ich muss jetzt los", setzte er und ging zügig los. Er rannte fast.

"Was? Warte!" Was ging denn jetzt ab? Ich ließ die Kinder stehen und hielt ihn zurück. "Finn, was ist denn los?"

Über seine Schulter warf ich einen flüchtigen Blick auf sein Handy. WhatsApp zeigte im Chatverlauf mit seiner Mutter eine eingekreiste 34 an. Bevor er die App wegdrückte, konnte ich noch den ersten Satz der Nachricht lesen: >Bitte tu dir nicht weh mein…< Der Rest war mit Punkten gekürzt worden. Was sollte das heißen?

"Ich hätte schon vor zwei Stunden zuhause sein sollen und muss jetzt wirklich los." Wieder wandte er sich ab. Ich wollte ihn so nicht gehen lassen, das ging mir alles zu schnell!

"Okay, ja, dann sehen wir uns morgen in der Schule?" Gespannt wartete ich auf seine Antwort. Plötzlich schrie Felix auf. Michael hatte ihn geschubst und er saß jetzt weinend auf dem Asphalt. Ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, dass er sich nicht verletzt hatte. Genervt atmete ich tief ein und sah zu Finn.

"Ja, wir sehen uns dann morgen", sagte er kopfschüttelnd und tippte auf dem Handy herum. Dann ging er wieder los. Enttäuscht sah ich ihm eine Sekunde hinterher. Mehr Zeit hatte ich nicht, denn Felix wurde immer lauter und Michael hörte nicht auf, ihn zu treten.

Sommer in den Elbtalauen
Kapitel 1
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