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Sommer in den Elbtalauen
Kapitel 2

Ich sah nach rechts, zu den ankommenden Autos. Vor der Schule lag ein Wendehammer, in dem morgens viele Schüler von ihren Eltern gebracht wurden. Auch ein paar aus meiner Stufe.

Und dann sah ich ihn. Da war er, ein Gesicht in der Masse, welches ich sofort erkannte. Er saß in einem roten VW, an dessen Steuer eine Frau saß, die seine Mutter sein musste. Auf der Rückbank konnte ich Julia ausmachen. Sie stiegen aus und liefen über den Schulhof in Richtung Eingang. Ich ging zu ihnen.

"Hi!", sagte ich etwas zu fröhlich. Ich freute mich einfach, ihn wiederzusehen. Er lächelte mich an, und ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden.

"Was willst du denn von uns?", fragte Julia und genervt sah ich zu ihr. Sie musterte mich von oben bis unten. "Das mit gestern war eine einmalige Sache. Außerdem hab ich das nur für Herrn Müller gemacht. Sein enges Shirt steht ihm einfach so gut!"

Wir blieben bei einer der Bänke stehen. Julia kramte in ihrer Tasche und zog einen Spiegel hervor.

"Bist du gut nach Hause gekommen?", fragte ich Finn. Gestern Abend war mir immer wieder die Nachricht seiner Mutter durch den Kopf gegangen. Was hatte das zu bedeuten? Obwohl Finn schon seit drei Monaten in meine Stufe ging und wir auch viele Kurse gemeinsam hatten, wusste ich fast nichts über ihn. Vor ungefähr einem Jahr war er aus der zehnten Klasse der Gesamtschule verschwunden und dann wieder bei uns in der elften aufgetaucht. Ein Jahr war er weggewesen und keiner wusste, wo er dieses Jahr verbracht hatte. Seitdem suchte er keinen Kontakt zu anderen und hing nur mit Julia ab.

"War ja nicht so weit nach Hause", antwortete er und zuckte mit den Schultern. Fand er mich genauso ätzend wie Julia mich fand?

"Deinetwegen hat er zwei Monate Hausarrest!", platzte es aus Julia heraus, während sie eine Puderdose und Wimperntusche hervorholte.

"Was? Warum? Du bist doch schon siebzehn…", nuschelte ich. Meinetwegen?

"Was willst du überhaupt von uns?", fragte Julia, während sie sich puderte. Sie wühlte wieder in ihrer Tasche und zog einen Lippenstift heraus.

"Das ist kein Ding, ehrlich. Mama will eh, dass ich immer gleich nach Hause komme. Da macht es keinen Unterschied, ob das als Fürsorge oder Hausarrest deklariert wird", ging Finn dazwischen und lächelte wieder gequält. "Ist mir egal."

"Soll ich mit deiner Ma´ sprechen? Kann ich da irgendwie helfen?", fragte ich und sah zu Boden. Ich hatte ihm keinen Ärger einbrocken wollen.

"Oh Mann, Patrick! Nerv nicht rum! Wärt ihr nicht noch Eis essen gegangen, wäre er überhaupt nicht zu spät gekommen!" Julia verdrehte die Augen und tuschte sich die Wimpern.

"Was…?", stotterte ich und sah Finn an, dessen Wangen durch hektische Flecken errötet waren.

"Können wir jetzt rein gehen?", fragte er.

Ich nickte. Julia klappte ihren Spiegel zu und schmiss ihren Mädchenkram wieder in die Tasche. Zu dritt liefen wir hinein und den Flur hinab. Schon beim dritten Raum blieb Julia stehen und verabschiedete sich.

"Wir sehen uns zum Mittagessen", sagte sie kühl und war endlich weg. Finn und ich stiegen schweigend die Treppe zum ersten Stock hoch.

"Julia kann ganz schön zickig sein", sagte Finn und wir blieben vor unserem Klassenraum stehen.

"Findest du?", fragte ich ironisch. Er grinste. Sein ovales Gesicht mit dem markanten Kinn veränderte sich, wenn er lächelte. Er bekam dann kleine Grübchen in den Wangen und seine Augen wurden schmal, das Grün darin blitzte nur noch hervor.

 

Zur Mittagspause gingen wir zusammen. Nicht alleine durch die Flure zu laufen, war ungewohnt, aber angenehm. Gelegentlich schloss ich mich einer Traube von anderen Jungs an, aber ich hatte kaum etwas, über das ich mit ihnen sprechen konnte. Ich fühlte mich deswegen ausgeschlossen, aber ich konnte keine Freundschaften knüpfen. Zumindest nicht so, wie die anderen es wollten. Dafür war mein Leben zu kompliziert und an meine Familie gebunden.

"Da!", sagte Finn und zeigte auf Julia, die auf einer Bank saß und zu uns sah.

"Hängst du jetzt immer mit uns ab?", fragte sie schnippisch, als wir bei ihr angekommen waren. Ich setzte mich kopfschüttelnd neben sie. Warum waren die beiden bloß befreundet? Wir packten unser Essen aus und beobachteten schweigend die anderen Schüler, die auf dem Schulhof herumliefen.

Julia holte tief Luft und sah mich von der Seite an.

"Jetzt mal ehrlich, Patrick, du hast doch so viele Freunde, wieso hängst du nicht mit denen ab? Die Jungs aus dem Basketballteam vermissen dich bestimmt schon. Nerv die doch, ja?"

Verwirrt sah ich zu ihr. Finn hatte mich gestern dasselbe gefragt. Wie kamen sie darauf, dass ich Freunde hatte? Sie wussten offensichtlich nicht, wie mein Leben aussah.

"Ist gut, Julia. Lass ihn", entgegnete Finn. Dankbar zog ich einen Mundwinkel hoch. Normalerweise brauchte ich keinen Beschützer, aber ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Aus Angst, dass sich Finn auf ihre Seite stellte und sie mich wieder ausschlossen.

"Ich frag ja nur!", entgegnete sie und verdrehte wieder die Augen.

"Wenigstens in der Schule will ich mal keinen Stress haben, okay? Lass es einfach sein!", sagte Finn mit Nachdruck.

"Schön! Dann geh ich halt!" Sie packte ihre Sachen zusammen, blieb aber vor uns stehen und sah Finn mit offenem Mund und zusammengezogenen Augenbrauen an.

"Boah, Julia! Jetzt übertreib doch nicht gleich!", stieß Finn augenrollend hervor.

Ich schwieg. Für einen Streit kannte ich die beiden nicht gut genug. Vor allem weil sie über meine Person stritten. Ich hätte gehen können - nein, sollen - aber ich wollte die Pause nicht wieder alleine verbringen.

"Ich übertreibe? Finn, seit einem Jahr bist du immer pünktlich zuhause! Deine Mama und ich haben uns solche Sorgen gemacht, dass…" Sie unterbrach sich und sah mich flüchtig an. Ihre Nasenflügel bebten und der Mund stand offen. "Ist ja auch egal. Auf jeden Fall geht das nicht!"

"Du bist doch nach einer halben Stunde gegangen!", entgegnete er. "Hast mich einfach sitzen lassen."

Mit geröteten Wangen und leicht außer Atem starrten Finn und Julia sich an.

"Ich hatte den Scheiß-Zahnarzttermin vergessen! Mann, Finn, du hattest versprochen, direkt nach dem Spiel nach Hause zu gehen! Wäre ich deine Mutter, hättest du ein halbes Jahr Hausarrest!"

"Bist du aber nicht! Obwohl du dich so aufführst!", schnaubte er und ein paar Schüler drehten sich zu uns um.

"Ehekrise?", fragte einer.

"Verpiss dich, du Pfosten!", brüllte Julia.

Offensichtlich hatte das Anbrüllen von Fremden eine beruhigende Wirkung auf sie, denn sie ging auf Finn zu und nahm ihn in den Arm.

"Scheiße", nuschelte sie an seinem Hals. Seinem schlanken, langen Hals. Für eine Sekunde wünschte ich mir, an ihrer Stelle zu sein. Trotzdem irritierte mich ihre Reaktion etwas. Warum flippte sie so aus?

"Schon gut", flüsterte er und legte die Hand an ihren Rücken. Es war mir unangenehm, die beiden in diesem intimen Moment zu beobachten, also aß ich weiter mein Brot und sah weg.

"Bitte ruf mich das nächste Mal an und sag mir, dass es später wird, okay? Dann kann ich deiner Mama wenigstens sagen, dass es dir gut geht", flüsterte sie und löste sich von ihm.

"Mache ich."

Die Klingel beendete ihr Gespräch. Sie nahm seine Hand und ich lief hinter den Beiden her.

 

"Sorry, sie kann echt anstrengend sein", sagte Finn, als wir alleine vor dem Klassenraum stehen blieben. Julia hatte wieder einen anderen Kurs und war zum Glück nicht mehr bei uns.

"Das ist schon das zweite Mal heute, dass du dich für sie entschuldigst", merkte ich an und bekam ein Schulterzucken als Antwort. "Was ist denn bei dir los? Ich meine, wenn Lara um neun noch nicht zuhause ist, dann rufe ich die Polizei. Aber du bist doch alt genug, oder?" Ich wartete auf seine Reaktion.

Schnell sah er zu Boden und ich wusste, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Er kam ein bisschen näher zu mir.  

"Kennst du das, wenn du einen Fehler machst und dir danach nicht mehr vertraut wird?", fragte er leise und sah mich wieder an. Seine hellbraunen Haare fielen ihm ins Gesicht. Er trug sie oben etwas länger und an den Seiten kurz. Sein angenehmer Geruch zog mir in die Nase, so nah stand er bei mir.

"Ich… weiß nicht", hauchte ich und wunderte mich, warum ich keinen klaren Gedanken fassen konnte.

"Bei mir ist es so. Ich habe einen Fehler gemacht und seitdem gibt es nur noch Ärger."

"Was hast du denn gemacht?", fragte ich, immer noch leicht benebelt. Er antwortete mir nicht und sah stattdessen auf seine Hände. Warum schwieg er? Leider konnte ich ihn das nicht mehr fragen, denn die Lehrerin kam und schloss den Klassenraum auf.

Es folgte eine Doppelstunde Englisch. Ein Heimspiel, dadurch, dass ich meine ersten Lebensjahre in Amerika verbracht hatte. Und danach hatten meine Ma und Dad nur Englisch mit uns gesprochen. Heute schweiften aber meine Gedanken immer wieder in alle Richtungen ab, und als ich aufgerufen wurde, konnte ich die Frage nicht beantworten. Ich wollte nur mit Finn über all die Dramen reden, die sich offensichtlich um ihn drehten.

Als es endlich zur nächsten Pause klingelte, sprang ich auf.

"Kann ich Ihnen helfen, Herr Jenkins?", fragte unsere Lehrerin und die Klasse kicherte. Keiner der anderen Schüler hatte sich gerührt. Verwirrt sah ich Finn an, der auf die Uhr zeigte. Es war erst eine der beiden Stunden vorbei.

"Tschuldigung", flüsterte ich und setzte mich. Der Blick aller im Raum auf mir.

 

Die nächsten Wochen vergingen viel zu schnell. Jeden Tag saßen wir nun zu dritt auf unserer Bank vor der Schule und quatschten über alles Mögliche. Es war angenehm, nicht nur über die Schulprobleme meiner Geschwister oder die Geldsorgen meines Dads zu sprechen, auch wenn Julia immer dabei war. Sie zickte mich weiterhin an, aber es wurde weniger oder fiel mir nicht mehr so stark auf. Ich fragte mich, warum sie mich so wenig leiden konnte.

Es war Freitagmittag und das Wochenende stand vor der Tür. Eigentlich ein Grund zur Freude, aber das Gefühl von Freiheit wollte sich bei mir nicht so recht einstellen. Nicht nur, dass Dad am Wochenende arbeiten musste und ich mich die vollen zwei Tage um meine Geschwister kümmern musste. Nein, Finn diese lange Zeit nicht zu sehen, erschien mir jedes Mal wie eine Strafe. Er brachte neuen Schwung in mein eingefahrenes Leben.

Der rote VW von Finns Mama stand im Wendehammer und Julia war zum Glück schon vorgegangen. Ich öffnete das Schloss meines Fahrrads und überlegte, wie ich es am besten anstellte, nach seiner Handynummer zu fragen.

"Finn!", sagte ich im strengen Tonfall, den ich immer anschlug, wenn ich mit den Kleinen schimpfte oder nervös war. Ich drehte mich zu ihm. Die ganze Woche schon stand er so lange bei mir, bis ich bereit zum Losfahren war. Er wollte nicht zu seiner Mama ins Auto steigen. Das hatte er mir mal zu gemurmelt, als ich meinte, er könne ruhig schon gehen.

"Ja?", fragte er lachend und sah mich an. "Wenn du mich jetzt noch mit meinem vollen Namen rufst, hab ich irgendwas falsch gemacht."

Ich musste grinsen und biss mir auf die Unterlippe.

"Wäre… Ist es okay, wenn wir Handynummern austauschen… also nur so… um… wegen Hausaufgaben und so. Wir haben ja so viele fürs Wochenende auf und da dachte ich… falls ich nicht weiterkomme… ?" Was laberte ich bloß? Warum war ich so nervös?

"Was stotterst du denn so rum?", lachte er und kramte dann in seinem Rucksack. Wenn er lachte, strahlte sein Gesicht. Seine Augen wurden ganz klein und die großen, geraden Zähne wurden von seinen vollen Lippen umrandet.

"Hier." Er reichte mir sein entsperrtes Handy. Ich nahm es ohne ihn anzusehen, zu sehr schämte ich mich für mein dummes Verhalten. Ich wollte ihn einfach als Kumpel haben, und weil ich schon ewig keinen mehr gehabt hatte, benahm ich mich wie ein Trottel.

"Was…?" Verwirrt sah ich auf das Display. Es zeigte die Nummerntastatur. "… soll ich damit?"

"Tipp deine Nummer ein, du Spinner. Was ist denn los mit dir?"

"Oh ja, na klar. Haha. Manchmal stehe ich echt aufm Schlauch." Ich hätte schreien können, so blöd wie ich mich benahm. Als mein Hirn seinen Betrieb wieder aufgenommen hatte, tippte ich wie befohlen eine Ziffer nach der anderen ein, las sie mir zweimal durch um ganz sicher zu gehen, dass es auch wirklich richtig war, und gab das Handy zurück. Kurz darauf brummte mein Handy in der Hosentasche. Ich zog es hervor und sah eine unbekannte Nummer. Verwirrt wollte ich den Anruf annehmen, doch Finn hielt mich zurück: "Jetzt hast du auch meine. Dann kannst du mir schreiben. Auch wenn es nicht um Hausaufgaben geht", sagte er und zwinkerte mir zu. 

"Ähm, ja, super... Okay… dann sehen wir uns am Montag. Und schreiben vorher…?", druckste ich herum. Er nickte. Bevor ich noch mehr Quatsch labern konnte, schwang ich mich aufs Fahrrad und fuhr los.

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