
Sommer in den Elbtalauen
Kapitel 3
"Pat Pat!", rief Felix und krabbelte mir aus dem Wohnzimmer entgegen. "Will… hoch… will…!"
Ich saß mit Lara und Michael am Tisch im Essbereich und machte Mathe-Hausaufgaben. Die gesamte untere Etage unseres Hauses war bis auf den Flur und die Gästetoilette ein einziger großer Raum in L-Form. Dad bereitete gerade in der Küche das Essen zu. Direkt daneben, nur abgetrennt durch eine halbhohe Mauer, befand sich der Essbereich in dem die Kleinen und ich Hausaufgaben machten. Es gab schon wieder das Lieblingsessen der Kleinen: Spaghetti mit Bolognese. Dad war kein guter Koch, genauso wie ich, aber wir gaben unser Bestes.
"Hoch…Ho…!" Felix war bei mir angekommen und streckte mir die Arme entgegen. Ich hob ihn auf meinen Schoß und rechnete weiter. Mathe war nicht schwer, aber einfach immer viel zu viel von den gleichen Aufgaben.
Mein Handy vibrierte und ich sah auf.
"Handys sind bei den Hausaufgaben verboten, Pat!", schalt mich Lara und griff danach. Es störte mich nicht, wenn sie mein Handy nahm. Mit Ausnahme von Dad versuchte mich eigentlich niemand zu erreichen. Lara und Michael benutzten es auch mit, weswegen es nicht nur abgegriffen und voller Kratzer war, sondern auch voller Spiele für Kinder. "Oh, wer schreibt dir denn? Finn? Ist das der von Montag?"
"Finn hat mir geschrieben?", fragte ich und meine Stimme ging etwas nach oben. Was hatte der Kerl nur an sich, dass alleine sein Name mich schon aus dem Konzept brachte? Und auf einmal verstand ich, warum die anderen aus der Schule immer so ein Drama machten, wenn die Lehrer ihnen das Handy wegnehmen wollen. "Gib mir das Handy!" Ich grabschte nach ihr, doch sie wich mir geschickt aus. Durch Felix auf meinem Schoß war ich nicht besonders flexibel, und so entkam sie mir und rannte ins Wohnzimmer. Mein Handy hatte keine Tastensperre, also konnte sie die Nachricht einfach öffnen.
">Hallo Pat, ich hoffe dir geht es gut<", las sie vor und lugte um die Ecke. "Also das ist echt ein lahmer Anfang!"
"Lara! Hör auf! Das geht dich nichts an! Verdammt!" Ich stand auf und übergab Felix an Michael, der mich auslachte.
"Du bist ja ganz aufgeregt", lachte er. Ich ignorierte ihn. Null Privatsphäre in dieser Familie!
Ich lief um die Ecke ins Wohnzimmer.. Sie stand auf der Couch und hüpfte auf und ab während sie weiterlas.
"Gib mir das Scheiß-Handy, Lara! Du alte Nervtante!", fluchte ich.
"Kids, don´t be so loud! Sit down!", rief Dad aus der Küche, doch wir ignorierten ihn.
">Ich wollte nur mal nachfragen, ob du mit den Hausaufgaben klar kommst<", las sie weiter. "Seit wann brauchst du denn Nachhilfe?"
"Halt die Klappe!" Mit einem großen Satz war ich neben ihr auf der Couch, packte ihre Hüfte und zerrte sie auf meinen Schoß. Sie bekam sich gar nicht mehr ein vor Lachen und quickte vergnügt. Obwohl ich sauer war, musste auch ich lachen. Trotzdem griff ich mir schnell das Handy, bevor sie noch weiter lesen konnte. Sie wehrte sich, aber ich hielt sie fest.
"We can eat now, Kids! Come here!", rief Dad wieder. Unter lautem, aber lachendem Widerspruch schmiss ich mir die Kleine über die Schulter und stand auf.
"Pat! Ich bin viel zu groß für den Quatsch!", rief sie und schlug mir mit ihren kleinen Händen auf den Rücken. Sie wollte schon erwachsen sein, obwohl sie erst dreizehn Jahre alt war.
"Du benimmst dich aber wie ein kleines Kind, also behandle ich dich auch so!", sagte ich während ich ihr liebevoll den Hintern versohlte. Sie kreischte herum und ich ließ sie auf ihrem Platz nieder.
"Das…", sagte ich und zeigte auf das Handy. "…ist meins! Klar?"
Sie sah mich mit großen Augen an und grinste frech.
"Auf einmal?"
Obwohl ich die Nachricht von Finn gerne sofort gelesen hätte, musste ich bis nach dem Essen warten. Dad brachte den großen Topf voller Nudeln und Soße, während ich die Hausaufgaben von allen zusammen räumte. Lara und Michael halfen den Tisch zu decken und Felix saß in seinem Hochstuhl und wartete auf uns.
"Okay kids, enjoy your meal."
Jeder bekam eine Kelle Nudeln und wir begannen zu essen.
"Esse Essen!", rief Felix und packte mit den Händen zu. Bereits nach dem ersten Bissen war sein halbes Gesicht rot. Während ich Michael davon abhielt, dasselbe wie er zu tun, würgte ich das Essen schnell hinunter. Ich wollte auf mein Zimmer und die Nachricht von Finn lesen. Er saß jetzt bestimmt nicht mit seinen kleinen, nervigen Geschwistern am Esstisch und ärgerte sich über die immer gleiche Mahlzeit.
Dad räumte die Schweinerei nach dem Essen auf und die Kinder und ich beendeten die Hausaufgaben. Nach einer gefühlten Ewigkeit lag ich endlich in meinem riesigen Bett. Allein. Das tat gut! Aufgeregt holte ich mein Handy hervor und las seine Nachricht.
>Hallo Pat, ich hoffe es geht dir gut. Ich wollte nur mal nachfragen, ob du mit den Hausaufgaben klar kommst. Liebe Grüße, Finn<
Das war alles. Was hatte ich auch erwartet? Aber immerhin hatte er mir geschrieben. Er dachte also auch an mich. Ich schüttelte den Kopf. Wir könnten Kumpel sein, mehr nicht. Keiner wusste von meiner Homosexualität. Meiner Familie hatte ich es nie gesagt, Dad wusste es aber bestimmt. Bisher hatte ich nur eine Freundin gehabt, bei der ich festgestellt hatte, dass Frauen nichts für mich sind. Keiner meiner Kumpel kam als Partner in Frage und abends weggehen war für mich nicht möglich. Außerdem gab es in unserem Dorf keine Möglichkeit Männer kennenzulernen, die auf Männer standen. Sowas gab es hier einfach nicht. Ich wäre schon froh, wenn ich überhaupt mal wieder einen Kumpel haben würde. An einen festen Freund war einfach nicht zu denken!
Natürlich lenkte ich mich mit diesen Gedanken ab, um mehr Zeit für die Antwort an Finn zu haben. Obwohl ich nicht unter Zeitdruck stand. Trotzdem wollte ich ihm schnell schreiben. Er wartete jetzt schon fast zwei Stunden darauf.
"Pff", machte ich. Als ob er auf eine Antwort von mir warten würde! Er saß bestimmt gerade auf der Couch mit seinen Eltern und sah sich den 20:15 Uhr Krimi im Ersten an. Oder sowas in der Art…
Ich öffnete den Chat und begann zu tippen: >Hallo Finn, mir geht es gut.< Sofort löschte ich den Satz wieder. So was Lahmes! Auch wenn Lara erst dreizehn Jahre alt war, wusste sie schon, was beim Flirten lahm war! Warum hatte sie da schon mehr Erfahrung als ich? Wieder schalt ich mich selbst: Finn und ich flirteten nicht. Wir waren auf dem besten Weg, Kumpel zu werden. Und wenn ich ihm jetzt eine lahme Nachricht schickte, wäre auch das bald vorbei. Reiß dich zusammen, dachte ich und begann von neuem zu tippen: >Hi Finn, bei mir alles gut. Hausaufgaben sind schon fertig, Englisch fand ich etwas anstrengend ;) Frau Noll gibt immer so viel auf… :/< Und: Senden.
Ich sah auf den Bildschirm meines Handys. Der Status von Finn stand auf 'zuletzt online um 20:01h'. Ich sah auf die Uhr: 20.45 Uhr. Die kleinen Haken neben meiner Nachricht waren noch grau. Hatte ich das Richtige geschrieben? Es war unverfänglich. Einfaches Geplauder unter Freunden. Verdammt, was machte ich mir so viele Gedanken? Ich war so verzweifelt, ihn als Kumpel zu bekommen, dass ich bei den einfachsten Dingen nervös wurde. 20:47 Uhr. Die Haken waren immer noch grau. Genervt stand ich auf und ließ das Handy liegen. Ich lief durch mein Zimmer, das in der Mitte durch Dachbalken getrennt war. Es war der ausgebaute Dachboden und das ehemalige Schlafzimmer von Ma´ und Dad. Dad hatte nach dem Tod von Ma´ nicht mehr hier oben schlafen können und wir tauschten die Räume. Jetzt hatte ich es umgeräumt und es war zu meinem Zimmer geworden. Angespannt sah ich erneut auf das Handy. Die Haken waren blau! Er hatte die Nachricht gelesen! Mein Herz raste. Unter seinem Namen stand der Status: 'schreibt…'
Ich atmete schnell ein und aus. Er schrieb und schrieb und dann, endlich, nach gefühlten Stunden - 20:53 Uhr - hatte ich seine Antwort.
>Die Noll kann echt nerven, aber Englisch sollte dir doch liegen so als Muttersprachler :) Ich hocke noch an Mathe, hab aber keine Lust mehr, deswegen schreib ich dir lieber ;)<
Er blieb online und ich schrieb ihm schnell eine Antwort, damit das auch so blieb.
>Ja, Englisch ist bloß immer so viel. Ich muss ja auch meinen Geschwistern noch helfen, da schaff ich das nicht immer alles…<, tippte ich und blickte auf das Geschriebene. Interessierten ihn die Kleinen? Er ging offline, also sendete ich die Nachricht einfach so ab. Und schrieb noch weiter. Ich wollte mehr über ihn wissen und ihm mehr über mich erzählen. Meine Daumen hielten inne. Normalerweise hatte ich kein Interesse daran mich mitzuteilen. Es gab niemanden, mit dem ich etwas teilen wollte oder konnte. An dem Tag, als meine Ma´ gestorben war, bei der Geburt von Felix, hatte sich mein ganzes Leben verändert. Es stellte sich heraus, dass meine Freunde mir in den schwersten Stunden nicht zur Seite stehen konnten. Ich war verängstigt und ganz allein gewesen. Dad musste nicht nur mit der Trauer um seine Frau kämpfen. Er hatte zwei kleine Kinder und ein Baby zu versorgen, für mich war da kein Platz mehr gewesen.
>Es ist echt nett von dir, dass du dich so um die Kleinen kümmerst<, schrieb er.
>Hab ja keine Wahl ;)<, antwortete ich. Es sollte mein Genörgel über die Kleinen etwas abmildern, aber war das zu viel für ihn? Normalerweise hingen Kumpels beieinander herum oder unternahmen etwas zusammen. Wie viel würde Finn von mir verlangen? Dass ich zu ihm käme? Oder würde er zu mir wollen? Wie könnte ich das mit den Kleinen regeln? Wir würden alle zusammen abhängen müssen und ich hoffte, dass es für Finn okay wäre.
"Nur keine Panik", murmelte ich zu mir selbst.
Wir sprachen erst seit ein paar Wochen miteinander. Er war der einzige, der glaubte, dass ich eine Zukunft außerhalb meiner Familie haben könnte. Er ermutigte mich, zu träumen und hoffen. Natürlich würden es Träume bleibe, aber es machte Spaß, sich eine Zukunft fern ab meiner täglichen Probleme vorzustellen. Ich musste cool bleiben und durfte mir nicht so viele Gedanken machen. Ich hatte einfach Angst, dass alles wieder genauso wie damals mit meinen Kumpels werden würde. DETAILS
Kurz waren wir beide online und keiner schrieb. Hatte ich ihn verschreckt?
>Was machst du heute noch?<, kam dann von ihm.
Dankbar für den Themenwechsel schrieb ich ihm schnell die Antwort: >Gucke noch Fernsehen, vor allem mal die freie Zeit genießen ;)<
>Passt du immer auf deine Geschwister auf?<
>Die meiste Zeit schon<, schrieb ich etwas zögerlich. Warum fragte er das? Wollte er abchecken, wie flexibel ich war? Ich ärgerte mich über mich selbst. Warum hinterfragte ich alles was er schrieb?
>Muss dein Dad so viel arbeiten?<
>Entweder er oder ich. Ihm ist wichtig, dass ich einen ordentlichen Abschluss habe.<
>Was ja auch richtig ist :) Wenn ich den Abschluss habe, will ich nur so schnell wie möglich aus diesem Kaff weg!<
>Was willst du denn nach dem Abi machen? Studieren? Oder arbeiten?<
>Ich weiß noch nicht was ich genau machen will… Aber irgendwas wird sich schon ergeben ;) Nur weg von zuhause und ein eigenes Leben haben… Am Montag ist doch wieder Training? Passt dein Dad dann auf die Kleinen auf?<
Ich hielt inne. Über Montag hatte ich noch gar nicht nachdenken wollen. Dad musste arbeiten, ich hatte keinen Babysitter und die Kinder konnten nicht alleine am Rand sitzen.
Also würde es für mich kein Training geben…?
"Fuck", hauchte ich, als mir mal wieder klar wurde, dass ich kein eigenes Leben hatte.
>Nach dem Abschluss will ich auch nur weg von hier<, schrieb ich deshalb. Es war die Wahrheit, ich wollte es wirklich. Studieren und mir ein eigenes Leben aufbauen. Aber ich wusste gleichzeitig, dass ich das nicht machen konnte. Da Dad und ich nicht über meine Zukunft sprachen, tat es gut, mit Finn darüber zu reden. Auch wenn ich ein schlechter Mensch war, weil ich so schnell wie möglich von meiner Familie weg wollte.
>Soll ich wieder auf die Kleinen aufpassen?<
Erstaunt sah ich auf das Display. Das würde er tun?
>Du hast doch Hausarrest… Außerdem will ich dir das nicht antun<
>Wenn ich direkt danach nach Hause gehe, sollte meine Mama kein Problem damit haben. Du tust mir damit nichts an :) Ich mag deine Geschwister<
Unsicher sah ich aus dem Fenster. Davor wuchs ein alter Apfelbaum, an dem wir eine Schaukel angebracht hatten. Die noch kahle Baumkrone bewegte sich ganz leicht im Wind.
>Ist das wirklich okay? Ich weiß nicht…<, antwortete ich ihm.
>Herr Müller meinte doch, dass du nur in das Team kommst, wenn du auch spielst<
Er schrieb weiter und ich wartete. Sollte ich sein Angebot annehmen? Könnte das wirklich funktionieren? Und könnte ich dann Teil des Teams werden? Aber selbst, wenn: Er müsste regelmäßig auf die Kleinen aufpassen und darauf hätte er bestimmt schnell keine Lust mehr. Mir schossen seine Worte durch den Kopf: "Immer setzt du ein >Aber< hinterher…"
>Was ich übrigens ganz logisch finde ;P<, kam noch von ihm.
Ich wollte es versuchen, mehr als dass ich nicht mehr spielen könnte, würde nicht passieren.
>Okay, wenn das wirklich kein Problem ist…<
>Kein Aber? ;P<
Ich musste grinsen.
>Hab kurz drüber nachgedacht ;)<
>Dann sehen wir uns am Montag beim Training!<
Die Konversation neigte sich dem Ende, aber ich wollte mich noch nicht von ihm trennen.
>Leider erst am Montag…<, schrieb ich und sendete es nicht ab. Ich war bedürftig, aber nicht so schlimm, dass ich um Aufmerksamkeit betteln musste. Also löschte ich den Text und legte das Handy neben mich, den Messenger noch immer geöffnet.
>Da hab ich dann wenigstens was, auf das ich mich freuen kann :)<, schrieb Finn. Unsicher sah ich auf die Worte. Wie meinte er das? Montage waren doof, das Wochenende war vorbei und man musste sich wieder mit den alltäglichen Sorgen und Idioten der Schule rumschlagen. Warum sollte er sich also freuen? Ich traute mich kaum, den Gedanken zu formulieren, aber sein lassen konnte ich es nicht: Freute er sich auf unser Treffen? Dass er mich wiedersah?
>:)<, war alles, was ich dazu schreiben konnte. >Ich freue mich auch<, setzte ich noch nach, traute mich aber nicht, es abzuschicken.
"Pat Pat!" Felix war die Treppe hochgeklettert und rief nach mir. Also legte ich das Handy weg und schnappte mir den Kleinen. Wir legten uns ins Bett und guckten Fernsehen, bis er eingeschlafen war. Kurz bevor auch ich weg döste, sah ich nochmal in den Messenger. Keine neue Nachricht. Stattdessen klickte ich auf Finns Profilbild. Es zeigte ihn lachend, so wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er lachte zwar mit mir und Julia, aber so fröhlich und ausgelassen wie auf dem Foto kannte ich ihn nicht.
Wieder erschien der Text seiner Mutter vor meinem geistigen Auge: >Bitte tu dir nicht weh…< Was sollte das bedeuten? Verletzte er sich selbst? "Finn Wagner" stand unter dem Foto. Der Nachname kam mir noch von irgendwoher anders bekannt vor, aber ich konnte ihn keinem Gesicht zuordnen. Außerdem war es ein Allerweltsname, also konnte ich mich auch täuschen.